Description
Friedrich, Oskar H. (1955). Geliebte Wildnis – Auf den Strassen Südamerikas. Ullstein Wien. 190 Seiten.
„Mit dem harmlos heiteren, blauen Gekräusel der Mittelmeerwellen ist es vorbei. Die Nase des „Giulio Cesare“ hat sich mit aller Entschiedenheit gegen Süden gedreht. Bleigraue Wogenkämme mit unfreundlichen Schaumkronen wälzen sich vom Atlantik her gegen die rechte Flanke unseres Schiffes. Aus dem Westen flammt noch einmal ein Strahlenbündel der versinkenden Sonne über Gibraltar. Die Steilfelsen sind mit violettem Licht übergossen, dann verblaßt alles feste Land hinter einer milchigen Wolke. Es ist, als wollte ein riesenhafter Vorhang uns den letzten Anblick Europas verwehren. Nur die in Barcelona an Bord gekommenen Lateinamerikaner sind von lärmender Fröhlichkeit. Die übrigen Reisenden, meist Auswanderer und Rückkehrer, stehen an der Reling und starren schweigend auf die düstere Nebelwand. Für einen großen Teil dieser Menschen ist die Heimat wohl für immer dahinter entschwunden. Nirgendwo auf der Welt findet man schneller zueinander als auf den Planken eines Oberseedampfers. Standesunterschiede, Nationaldünkel, rassische und religiöse Gegensätze verflüchtigen sich schnell in der aus Salzluft, öl- und Teergeruch gemengten Atmosphäre. Zumindest bei den Passagieren der dritten Klasse ist es so. Da unterhält sich der ehemalige deutsche Hochschullehrer mit einem Bauernburschen aus dem Banat; ein früheres Mitglied des kroatischen Parlaments steht im Gespräch mit einem einfachen italienischen Arbeiter. Selbst zwischen unserem vornehmsten Fahrgast, einem baumlangen Marokkaner, Sohn eines Scheichs, und einem kleinen, verschrumpelten polnischen Juden ist eine lebhafte Wechselrede im Gang. Alle sind auf der Flucht vor Europa. (…)“